Clubgeschichte
40 Jahre Unterfahrt
Wer Jazz sagt, meint in München seit 40 Jahren die Unterfahrt.
Eine kleine Clubgeschichte von Oliver Hochkeppel
Nicht, dass Jazz nicht auch im Konzertsaal funktionieren würde. Das tut er nachweislich seit mindestens 1938 (also seit Benny Goodmans Carnegie Hall Concert). Aber da trägt er dann sein Sonntagskleid. Für den Alltag, für sein - nennen wir es ruhig so - Familienleben braucht er andere, besondere Räume. Denn im Gegensatz zu den anderen Musikgenres entsteht Jazz im und für den Moment, formt er sich erst durch die Interaktion mit dem Publikum vollständig aus. Deshalb sind „Clubs“ für den Jazz so wichtig, und eben deshalb denkt man bei Jazz in München heute fast automatisch an die Unterfahrt. Heute, 40 Jahre nach ihrer Eröffnung.
Zu feiern gilt es streng genommen ein Doppeljubiläum: Teilen sich doch die 40 Jahre in zwei gleich lange Hälften. Da ist zunächst die von 1978 bis 1998 dauernde Ära der „alten“ Unterfahrt in der Kirchenstraße am Heidenauplatz. Ein kleiner Zirkel wildbewegter Jazzer war es, der mit Fritz Otto, Herbert Straub und Mike Uitz an der Spitze ein verwinkeltes ehemaligen Eisenbahner-Lokal übernommen hatte – samt eines Billardtischs auf der Bühne und des Namens, der in den Ohren englischsprachiger Menschen nicht besonders elegant klingt. Ein rauchverhangenes Nischendasein entfaltete sich, in einer damals noch bunten Jazzclub-Landschaft mit dem international renommiertem „Domicile“ an der Spitze, dem „Allotria“ als Hort der Traditionalisten und diversen Läden vom „Nachtcafe“ bis zum „Kleinen Rondell“ für die verschiedensten Geschmäcker. Schnell prallten in dieser Unterfahrt kreative Lust und wirtschaftliche Zwänge aufeinander. Um Förderung wenigstens beantragen zu können, gründete man 1980, also zwei Jahre nach dem Club, den dazugehörigen Verein: den „Förderkreis Jazz und Malerei München e.V.“ Er wurde nicht nur der Veranstalter, sondern auch der Katalysator einer Professionalisierung. Zunächst unter der Ägide von Sepp Dachsel und Lisl Geipel, dann mit dem über 20 Jahre lang fungierenden Tandem Christiane Böhnke-Geisse und Michael Stückl wurde die Unterfahrt nicht nur zu einem professionellen Jazzclub, sondern zu einer der international besten Adressen der Jazzwelt.
Endgültig besiegelt wurde das 1998 mit dem Umzug in einen der Kellerräume der ehemaligen Unionsbrauerei in der Einsteinstraße. Nun hatte man adäquate Räumlichkeiten, und nach und nach dank verschiedener Zuwendungen sowie dem eigenen organisatorischen wie wirtschaftlichem Geschick auch einen guten Flügel sowie eine - unlängst auf den modernsten Stand gebrachte - solide und hauptamtlich von Robert Huber betreute technische Ausstattung. Seit Herbert Mandl und Walter Prijak sich ihrer annahmen, funktioniert sogar die Gastronomie, die wie in so vielen Kultureinrichtungen lange Zeit ein Sorgenkind war. Ein in jeder Hinsicht geeigneter Rahmen also, um internationale Stars zu präsentieren. Und alle, alle, alle kamen und kommen sie, die Amerikaner ebenso wie die Skandinavier, die sich enorm entwickelnde deutschsprachige Szene ebenso wie die Ost- und Südeuropäer. Die großen Alten und die jungen Wilden, Etablierte (darunter Stars, die man normalerweise nicht mehr in Clubs erleben kann) und noch zu Entdeckende. Von ein paar Straßen weiter wie vom anderen Ende der Welt.
Denn schon vor dem Umzug war die Unterfahrt der Platzhirsch geworden. Wohl nicht zuletzt wegen der Vereinsstruktur ging das große Clubsterben – das bis auf die kleine Jazzbar Vogler und den Nightclub im Bayerischen Hof alle Münchner Läden erwischte – an ihr vorüber. Mehr als das: Dank der Kompetenz, des Idealismus und nicht zuletzt der Selbstausbeutung des Teams entwickelte sich die Unterfahrt zu einem der führenden Jazzclubs Europas – vom Programm her sicher unter den Top Five. Selbst „Downbeat“, die legendäre amerikanische Jazz-Zeitschrift, rechnete die Unterfahrt schon bald nach der Jahrtausendwende unter die „100 Great Jazz Clubs of the World“ und führt sie noch heute unter ihren „150 Leading Places“. Selbst in der eigenen Heimat gilt der Prophet zunehmend etwas: Vom Musikpreis der Landeshauptstadt München bis zum Echo Jazz wurden dem Club höchste Ehren zuteil, das Kulturreferat der Stadt wie einige andere Institutionen und Firmen unterstützen ihn inzwischen kräftig.
Man weiß also, was man an der Unterfahrt hat: Nicht nur das hiesige Wohnzimmer des Jazz, sondern eine unverzichtbare Institution, die den Ruf der Musikstadt München international mehrt. Dafür versuchen sich die Macher seit jeher an einer Art Quadratur des Kreises: Will die Unterfahrt doch einerseits den aktuellen Stand des internationalen Jazz präsentieren, andererseits auch Plattform der hiesigen Szene sein; die Spitze soll ebenso kultiviert werden wie die Breite; keine Stil darf komplett fehlen, Traditionalisten müssen ebenso angesprochen werden wie die jungen Jazzentdecker. Eine aufreibende Arbeit ist das für alle hinter den Kulissen. Ruhm und Reichtümer sind da nicht zu erwerben, „Ehrenamt“ lautet das Zauberwort. So ist es vielleicht ganz natürlich, dass es nicht immer ohne Konflikte abgeht und im Büro, im Vorstand wie (nach Christiane Böhnke-Geisses Ausstieg vor vier Jahren) auch bei der Programmleitung manch eine und einer kommt – und auch wieder geht. Dem Club hat dies bislang nichts anhaben können: Die Mitgliederzahl steigt seit vielen Jahren kontinuierlich und steht inzwischen bei über 1300; die Besucherzahlen brechen ebenfalls Jahr für Jahr Rekorde, Konzerte vor einem leeren Saal gibt es nicht mehr, öfter denn je müssen Gäste, die nicht reserviert haben, wieder den Rückzug antreten; und das inzwischen vom Dreigestirn Michael Stückl, Andreas Heuck und Wolfgang Schmid gestaltete Programm ist nach wie vor herausragend.
So darf man nun - mit insgesamt 40, an den Kerntagen der Geburtstagsfeier über das ganze Einstein-Kulturzentrum verteilten Konzerten - nicht nur 40 Jahre vibrierenden, hochklassigen Jazzbetrieb in München feiern, sondern auch dessen vielversprechende Zukunft. Vier, fünf Mal in ihrer Geschichte stand die Unterfahrt kurz vor dem Aus. Diese Gefahr scheint gebannt. Als Münchner Jazzfreund hat man einen sicheren Hafen, in dem alle Schiffe einlaufen, die auf den immer grenzenloseren und bewegteren Ozeanen der mit „Jazz“ immer unzureichender beschriebenen Musik treiben. Hoffentlich auch noch die nächsten 40 Jahre.
im März 2018 / Oliver Hochkeppel